Am 8. Mai wehten in Siegburg die Flaggen – nicht halbmast, sondern in voller Höhe. Das NRW-Innenministerium hatte anlässlich des 80. Jahrestags des Weltkriegsendes die Vollmast-Beflaggung angeordnet. Denn mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa – und Deutschland wurde vom Nationalsozialismus befreit. Ein Tag also, der zugleich für Niederlage und Neuanfang steht.
In vielen europäischen Ländern, etwa in den Partnerstädten Nogent-sur-Marne (Frankreich) und Boleslawiec (Polen), ist der 8. Mai ein gesetzlicher Feiertag. In Deutschland hingegen blieb es lange beim stillen Gedenken. Doch das Verständnis ändert sich: Der Tag wird zunehmend als Tag der Befreiung wahrgenommen – nicht nur als militärisches Ende, sondern auch als politische und moralische Zäsur.
Genau mit dieser Wandlung befasste sich auch Gregor Gysi am Samstag im Rhein Sieg Forum. In seinem Vortrag blickte er auf acht Jahrzehnte deutscher Geschichte zurück – und auf zwei sehr unterschiedliche deutsche Vergangenheitsnarrative. In der DDR sei der 8. Mai ein staatlich verordneter Feiertag gewesen, ideologisch aufgeladen und ohne selbstkritische Reflexion. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit Parallelen zur eigenen Diktatur habe man vermieden.
In der alten Bundesrepublik hingegen sei der 8. Mai lange als Tag der Niederlage verdrängt worden – begleitet von Schweigen über NS-Verbrechen wie den Holocaust. Erst mit wachsender demokratischer Reife habe eine tiefere Auseinandersetzung begonnen. Diese Entwicklung sei nicht abgeschlossen, aktuell sogar bedroht. „Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen mehr denn je verteidigt werden“, forderte der Redner aus Berlin. Klimakrise, soziale Ungleichheit und Kriege stellten die Gesellschaft auf die Probe.
Gysi erinnerte auch an wachsende Vermögensungleichheit. Deutschland verzeichnete 2023 eine Rekordzahl an Milliardären – gleichzeitig würden Realeinkommen und Renten sinken – ein gefährliches Signal für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Sein Fazit: Ungerechtigkeiten müssen benannt und gemeinsam bekämpft werden. Nur so lasse sich die Demokratie bewahren – und dürfe nicht jenen überlassen werden, die ihr feindlich gegenüberstehen.
Musikalisch begleitet wurde der Abend von Sopranistin Valerie Haunz und Pianistin Sofi Simeonidis.
Am darauffolgenden 9. Mai – dem Europatag – blieben die Flaggen in Siegburg gehisst. Der Tag erinnert an die berühmte Schuman-Erklärung von 1950, mit der Frankreichs damaliger Außenminister den Grundstein für die europäische Einigung legte. Ziel war es, einen weiteren Krieg zwischen europäischen Nationen unmöglich zu machen.
Heute weiß man: Aus Feinden wurden Partner – und aus Trümmern entstand ein Friedensprojekt, das seinesgleichen sucht. (pho)